Lehrergespräch mit Frau Professorin Traub

Jüdisches Leben in Baden-Württemberg heute – natürlich auch nach dem 7. Oktober 2023

Mehr als 20 Lehrerinnen und Lehrer aus den PKC-Kooperationsschulen und aus dem Verteiler des Lehrer-Newsletter sind für einen engagierten Vortrag und für eine abwechslungsreiche Fragerunde mit der Vorsitzenden der IRGW-Repräsentanz am 27. November 2023 nach Freudental gekommen. Hier folgt eine kurze Zusammenfassung und ganz unten finden Sie einige Folien aus der Präsentation, die uns Frau Traub dankenswerter Weise zur Weiterverwendung freigegeben hat.

More than 20 teachers from PKC cooperation schools attended a lecture and Q&A session with the chairwoman of the Jewish Representative Office of Württemberg (IRGW) on November 27th. Professor Barbara Traub explained that Jewish communities in Stuttgart and all over Germany have experienced shrinkage since the Second World War and into the 1990s. Only then, with many refugees coming from the Russian states, the Jewish population in Germany increased considerably. Today, the IRGW passes traditions like Shabbat and tefillin to the children in their kindergarden and „ComJewnity programs“ have been implemented to bind young families more closely to the Jewish religion and the Jewish community. Anti-Semitism affects Jewish communities in general and specifically, with Israel-related anti-Semitism becoming stronger since already 15 years.

Die jüdischen Gemeinden sind nach dem zweiten Weltkrieg und bis in die 1990er Jahre immer kleiner geworden. Erst durch die Zuwanderung aus der früheren UdSSR wuchsen sie personell wieder, sodass heute ca. 120.000 Juden in den deutschen Synagogengemeinden integriert sind. Die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) zählt aktuell ca. 2.700 Mitglieder (die badischen Gemeinden kommen auf ca. 4500 Mitglieder). Es gibt sehr viele ältere Mitglieder und wenige Neueintritte, sodass die Gemeinden insgesamt schrumpfen.

Die Stuttgarter ist wie die Mehrheit der deutschen jüdischen Gemeinden eine Einheitsgemeinde, d.h. ein Dach, unter dem alle Richtungen sich versammeln können. Mehrheitlich wird nach orthodoxem, d.h. aschkenasischem Ritus mit sephardischer Aussprache des Hebräischen gebetet und gefeiert, sowohl in Stuttgart als auch in den acht Zweigstellen. Die religiösen Zentren sind die Synagogen in Stuttgart, Ulm und Esslingen, die jeweils an zentralen Orten der Städte liegen.

Seit zehn Jahren gibt es eine liberale Gruppe; die Mitglieder haben die Wahl, zu welcher Versammlung sie gehen wollen. Der Unterschied zwischen „orthodox“ und „liberal“ zeigt sich unter anderem am Umgang mit dem Ruhegebot am Schabbat: Im Talmud sind kreative Arbeiten nach einer Liste der 39 verbotenen Tätigkeiten am Schabbat verboten; die liberalen Juden betrachten dies als zeitbedingte Ausführungsbestimmungen der Rabbiner, die veränderbar sind – die Orthodoxen halten das strenger.

Zum Stuttgarter Gemeindeleben: Seit einigen Wochen ist die Grundschule nach Eduard Pfeiffer benannt, einem Stuttgarter, die viel Wohltätigkeit geübt hat. Dort werden den Kindern, davon sind etwa die Hälfte jüdischer Herkunft (und hierbei werden auch die „Vaterjuden“ gezählt), Traditionen wie der Schabbat und das Tefillin legen weitergegeben. Für junge Familien gibt es seit etwa zwei Jahren Programme mit dem Namen ComJewnity, um sie stärker an die Religion und an die Gemeinde zu binden. Im jüdischen Kindergarten sind etwa 2/3 der Kinder aus jüdischen Familien und auch dort werden Feste und Religion thematisiert und gefeiert.

Ein besonderes Event für Jugendliche ist die Jewrovision, für die die Gruppen aus fast allen deutschen Gemeinden jedes Jahr eine Tanzpräsentation einstudieren. Bei dem deutschlandweit organisierten Treffen erleben mehr als 1200 junge Menschen sich als große Gruppe und nicht nur als Minderheit – was ansonsten ja nur im Land Israel möglich ist. Sie gehen nicht nur in den Wettbewerb und treffen Gleichgesinnte, sondern feiern auch miteinander Schabbat, in jugendgemäßer, moderner Form.

Das Thema „Antisemitismus“ bewegt die Menschen in den jüdischen Gemeinden sowohl im Allgemeinen als auch im Spezifischen. Ein negativer Höhepunkt waren die Diskussionen im Zusammenhang mit der „documenta“ in Kassel, hier wurden keine israelischen Künstler eingeladen und außerdem extrem antisemitische Kunstwerke ausgestellt. Seit 15 Jahren wird der israelbezogene Antisemitismus spürbar stärker: Den Israelis wird vorgeworfen, sie benähmen sich so wie die Nationalsozialisten.

Es gibt wenige wirklich antisemitisch eingestellte Menschen in der deutschen Gesellschaft (1,7%), aber viele im Graubereich (10,3%), die vage und ambivalent eingestellt sind. Dieser Gruppe müssen wir uns verstärkt zuwenden und sie zu gewinnen suchen. Wichtig ist, dass sich Antisemitismus nicht auf irgendwelche Randgruppen beschränkt und nun auch muslimischer Antisemitismus deutlicher wird. Aufgrund der öffentlich geäußerten Drohungen Mitte Oktober 2023 haben einige Eltern ihre Kinder einen oder mehrere Tage lang nicht in den jüdischen Kindergarten und in die jüdische Grundschule in Stuttgart gehen lassen.

Für die jüdischen Gemeinden ist das jetzt eine Wende! Die Repräsentanz will sich davon nicht unterkriegen lassen, sie vernetzt sich noch stärker, um mehr Informationen zu bekommen. Einerseits wollen die Juden in Deutschland stolz zum Judentum stehen, aber kann man Jugendlichen heute guten Gewissens raten, sich offen zu deklarieren? Frau Traub denkt, dass es keine Massenauswanderung geben wird, denn nach Israel kann man jetzt auch nicht auswandern – dort ist es aktuell doch nicht sicher. Das Selbstvertrauen ist also zerbrochen.

In der anschließenden längeren Fragerunde beantwortete Professorin Traub unter anderem die Frage, was denn die Essenz des Judentums sei: Im Gebet „Schma Israel“ steht, dass man „mit ganzer Seele und mit ganzem Herzen“ die Gebote verfolgen soll. Vor mehr als 2000 Jahren hatte Rabbi Schammai dazu ausgeführt, dass die 613 Ge- und Verbote der Tora oft und aufmerksam zu studieren seien, während sein Lehrer Rabbi Hillel diese mit der goldenen Regel zusammenfasste: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht; das ist die ganze Gesetzeslehre, alles Andere ist nur die Erläuterung, gehe und lerne sie.“

Von den anwesenden Lehrerinnen und Lehrern befragt, was sie sich wünscht, antwortete die Referentin, dass sie das Judentum so vermitteln sollen, wie es sich heute präsentiert, nämlich vielfältig, jung und lebensbejahend (z.B. im Film „Masel Tov Cocktail“). Man kann insbesondere die jüdischen Feiertage durchnehmen und sie mit christlichen und muslimischen Feiertagen vergleichen, um ins Gespräch zu kommen. Die Vielstimmigkeit der jüdischen Richtungen könnte z.B. anhand der rabbinischen Kommentare aufgezeigt werden und ebenso die daraus resultierende Fähigkeit und Notwendigkeit, gute Kompromisse zu schließen.

Mit der Zustimmung von Professorin Barbara Traub veröffentlichen wir hier einige Folien ihrer Präsentation: