Stiftungsrede von Prof. Dr. Miriam Rürup

1701 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – Fragen zu einem denkwürdigen Festjahr

Sehr geehrte Damen und Herren,

haben Sie vielen herzlichen Dank für die Einladung zu Ihrem diesjährigen Stiftungsfest. Ich fühle mich nicht nur geehrt, sondern es ist mir zugleich eine große Freude, heute bei Ihnen über 1701 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – Fragen zu einem denkwürdigen Festjahr zu sprechen. Doch möchte ich Ihnen zuerst sehr herzlich gratulieren und Ihnen meinen großen Glückwunsch zum 37jährigen Jubiläum des Pädagogisch Kulturellen Centrums Ehemalige Synagoge Freudental aussprechen, welches inzwischen schon seit 1985 in den Räumen der Ehemaligen Synagoge des Ortes existiert. Es bietet ein beeindruckendes Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement und die aktive Gestaltung des öffentlichen Raumes im Sinne einer verantwortungsvollen und auf die Zukunft gerichteten Erinnerungspolitik. Dafür gebühren Ihnen nicht nur Glückwünsche allein, sondern zugleich Anerkennung und Dank.

Aus dem ja doch recht nahe gelegenen Karlsruhe stammend, war ich dennoch erst vor einigen Jahren selbst zum ersten Mal zu Besuch in Freudental; damals als Mentorin im Rahmen eines deutsch-britisch-israelischen Seminars für DoktorandInnen. Die Gegend wie auch dieser besondere Ort haben mich sogleich für sich eingenommen: jede Begegnung atmete den Geist des ehrenamtlichen und begeisterten Engagements der hiesigen Bevölkerung. Und das trotz oder vielleicht auch gerade wegen des Bruchs, für den das Jahr 1933 und die ihm folgende Katastrophe stehen.

Als wir seinerzeit hier zusammenkamen, gehörte auch Baronness Julie Neuberger zu den TeilnehmerInnen der Nachwuchstagung. Rabbinerin, Engländerin und familiär selbst aus dieser Region und einer Weinbauernfamilie stammend, hat sie bei mir – wie bei allen TagungsteilnehmerInnen – einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Trat an ihr doch geradezu paradigmatisch die Verknüpfung von „Lokalkolorit“ mit der großen Globalgeschichte, den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und der heutigen Gegenwart hervor. Dazu gehörte auch der gerade erfolgte Erhalt ihres deutschen Passes, von dem uns Baroness Neuberger sichtlich bewegt und stolz berichtete. Zwar war sie selbst bereits in England geboren, doch gehörte ihre Familie zu jüdischen Auswanderern aus dieser Region. Und mit der Auswanderung begann das Ende einer langjährigen Anwesenheit deutscher Juden in dieser Gegend.

Der erste, der unter NS-Verfolgungsdruck emigrierte, war Julius Herrmann. Er konnte sich erfolgreich in die USA retten und viele Jahre später, 1962, aus Missouri Wiedergutmachung in Stuttgart beantragen. Seine Familie ist geradezu beispielhaft für die lange Anwesenheit von Jüdinnen und Juden hier am Ort: seit Mitte des 18. Jahrhunderts lebten die Herrmanns hier. Doch steht seine Familie auch paradigmatisch für die Selbstorganisation der Jüdinnen und Juden in der Zeit des einbrechenden Nationalsozialismus. Auf dem Hof seines Vaters trafen ab den 1930er Jahren Jugendliche von Habonim (hebr. Bauleute) und Hashomer HaZair (hebr. Der junge Wächter) zusammen, um sich mittels Hachschara (hebr. Vorbereitung) auf die Auswanderung in den Jischuw, das jüdische Palästina, vorzubereiten.

Es ist dieser Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus einerseits und den Abbruch einer über Jahrhunderte währenden langen Anwesenheit von Jüdinnen und Juden hier im Ländle, der zu meinen Überlegungen über die Bedeutung von „1701 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ überleitet. Immerhin waren die 12 Jahre des Nationalsozialismus nicht nur eine Unterbrechung, sondern ein wirklicher Abbruch und wurden vielfach als Beleg dafür gesehen, dass es sich bei der Vorstellung von einer vermeintlichen „deutsch-jüdischen Symbiose“ um eine Illusion handelte.

Die heutige erneute Anrufung einer vermeintlich 1700jährigen Geschichte der Gemeinsamkeit wirft also wie von selbst mehr Fragen als Antworten auf, die sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft verweisen. Wie also können wir den Blick von „1700 Jahren jüdisches Leben in Deutschland“ weiterentwickeln und neu denken, und wie können wir ihn – eingedenk vergangener Migrationserfahrungen, aber auch unseres eigenen Zeitalters der Globalisierung – über die nationalen Grenzen hinausdenken?

Jüdische Geschichte und Kultur jenseits des Nationalen

In Quellen wie etwa dem Ersttagsstempel, mit dem die seit dem 4. Februar 2021 erhältliche Briefmarke zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ veröffentlicht wurde, bündeln sich wie unter einem Brennglas die gesamten Assoziationen zur deutsch-jüdischen Kultur und Geschichte. So erfreulich die Idee eines ganzen Jahres voller Veranstaltungen zu jüdischer Vergangenheit und Gegenwart doch ist, so nachdenklich stimmt just die hier getroffene, doch so erwartbare Auswahl. Unter den neun Motiven finden sich – neben dem das Festjahr begründenden Codex Theodosianus, der das Edikt von 321 enthält – zwei religiöse Bezüge (Menora und Chanukka), eine ursprünglich jiddische Redewendung (Tacheles reden), ein Synagogenneubau (Mainz), die Einsteinsche Relativitätsformel (E=mc2) und drei herausragende Persönlichkeiten.

Kein Zweifel: Hannah Arendt, Moses Mendelssohn und Kurt Weill, ebenso wie der Urheber der Relativitätstheorie Albert Einstein sind Geistesgrößen, deren Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Doch Bedeutung wofür? Schließlich ließe sich mit historisch langer Perspektive durchaus fragen, was wohl Einstein davon gehalten hätte, seine Formel als zentrales Motiv für ein Festjahr zu jüdischem Leben in Deutschland und damit als jüdischen Beitrag zur deutschen Geschichte eingeordnet zu sehen. Und dies ausgerechnet in dem Land, das ihm die stolze selbst gewählte Niederlegung seiner Staatsangehörigkeit 1933 verweigerte, nur um ihn ein Jahr darauf ausbürgern zu können.

Arendt und Weill konnten ihr Leben nur durch die Flucht aus Deutschland retten; Mendelssohns Werke gingen in den NS-Bücherverbrennungen in Rauch auf. Doch viel denkwürdiger an dieser Zusammenstellung ist die sicher unfreiwillige Neuauflage der bekannten „Beitragsgeschichte“ (als sei jüdische Geschichte erst relevant, wenn wir alle Arendts und Einsteins wären), verbunden mit dem wohlwollenden Bemühen, zumindest symbolisch ein 1.700 Jahre währendes deutsch-jüdisches Miteinander zu suggerieren. Letzteres hallt wie ein sanftes Echo auf das auffälliger Weise seit der Flüchtlingswelle aus Syrien im Jahr 2015 mehrfach als Abwehrreflex formulierte „christlich-jüdische Abendland“ nach.

Nun sollen damit nicht die Chancen eines solchen Festjahres infrage gestellt werden – ganz im Gegenteil. Ich möchte dazu anregen, die deutsch-jüdische Nische ein wenig zu verlassen und damit einige der uns vertrauten Grundannahmen zu hinterfragen. Schauen wir also schlaglichtartig und polemisch vereinfachend auf die europäischen Momente der deutsch-jüdischen Geschichte:

Es war ein römischer Kaiser, der Juden erstmals 321 die Ausübung eines Stadtbürgerrechts ermöglichte. Etwa 1.500 Jahre später war es die „Franzosenzeit“, während der die Juden in den französisch besetzten Provinzen des Deutschen Reiches erstmals in den Genuss gleicher Rechte kamen. Es war die französische Dreyfus-Affäre, die den österreichischen Juden Theodor Herzl darin bestärkte, seine Theorie des politischen Zionismus auszuarbeiten. Und es waren die Alliierten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Displaced Persons in den deutschen Besatzungszonen Unterkunft gaben und damit – wenngleich unbeabsichtigt – die Grundlage für einen Neuanfang jüdischen Lebens in Deutschland nach der Shoah schufen.

Diese polemisch zugespitzte Hinführung soll verdeutlichen: Deutsch-jüdische Geschichte und Kultur konnte und kann nur jenseits des nationalen Containers verstanden werden. Dies zeigte sich genauso in traumatischen Erfahrungen wie den mittelalterlichen christlichen Kreuzzügen, die für die europäischen Juden mit Gewalt und Vertreibung einhergingen wie auch in der Vertreibung der fortan als sephardische Juden bezeichneten Conversos von der iberischen Halbinsel im 15./16. Jahrhundert. Ebenso deutlich ist dies aber auch in der Entwicklung der SchUM-Städte – die Bezeichnung ist ein hebräisches Akronym für Speyer, Worms, Mainz (für die stellvertretend Mainz auf dem Ersttagsstempel verewigt ist), die zu einem europäischen Zentrum der aschkenasischen jüdischen Gelehrsamkeit wurden. Oder wir schauen auf Hamburg, das auch durch die Ansiedlung der sephardischen Juden in Altona seinen Standort als europäische Hafenstadt und Handelsmetropole ab dem 17. Jahrhundert signifikant ausbauen konnte.

Diese Besonderheit der deutsch-jüdischen Geschichte zeigt sich, um erneut einen großen Sprung zu machen, auch in der Wiederentstehung jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945: Die Displaced Persons, die die Grundlage der ersten jüdischen Gemeinden der Nachkriegszeit bildeten, kamen vorwiegend aus ost- und mitteleuropäischen Ländern. Zwei Generationen später waren es erneut osteuropäische Zuwandererinnen und Zuwanderer, die der jüdischen Gemeinschaft im Deutschland nach der Wende zu nicht nur zahlenmäßig, sondern auch religiös und kulturell ganz neuer Vielfalt und Wiederbelebung verhalfen. Die „zurückkehrenden“ Israelis, sowie die Wiedereinbürgerungen der Brexit-Deutschen, zu denen auch die bereits erwähnte Baroness Neuberger zählt, sind hier noch gar nicht mitbedacht.

Wenn wir heute also von transnationaler jüdischer Existenz und Gegenwart sprechen und der daraus folgenden Vielfalt, dann ist das gewissermaßen die positive Wendung der historischen Erfahrungen der jüdischen Geschichte, die von regelmäßigen Vertreibungen sowie Migrationsbewegungen geprägt war. Das jüdische Selbstverständnis im Deutschland der Gegenwart ist deutlich vielfältiger geworden. Hinzu gekommen sind nicht nur osteuropäische jüdische Einwanderer, sondern auch junge Israelis, die vor allem die urbane Kultur prägen. Längst gibt es jenseits der orthodox geprägten sogenannten Einheitsgemeinden auch wieder liberale und Reformgemeinden. Und es wird ein neues säkulares jüdisches Selbstverständnis in Deutschland wahrnehmbar, das sich nicht mehr als jüdisch im religiösen, sondern eher im kulturellen Sinne begreift. Andererseits ist aber auch Chabad ein (freilich religiöser, aber zugleich) international geprägter Bestandteil der jüdischen Gegenwart.

Nach Kriegsende lebte in Deutschland eine verschwindend kleine Zahl Juden, zwischen 10.000 und 15.000 Überlebende und Zurückgekehrte aus dem Exil machten diese frühe neue jüdische Gemeinschaft aus. Zusammen mit den Displaced Persons zählten die westdeutschen jüdischen Gemeinden zunächst etwa 25.000 Mitglieder – bis in die 1980er Jahre wuchs die Zahl auf rund 35.000 an. In Ostdeutschland registrierten sich von den zunächst 4.500 Jüdinnen und Juden lange nicht alle als Gemeindemitglieder.

Nach der Wende kamen bis zu 200.000 Jüdinnen und Juden als sogenannte Kontingentflüchtlinge aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland und verhalfen den jüdischen Gemeinden zu einem unverhofften Zuwachs an Mitgliedern, von denen etwa die Hälfte in den Gemeinden verblieben sind. Während der Jüdische Weltkongress noch 1948 den „Bann“ über Deutschland aussprach, leben 70 Jahre später wieder rund 100.000 Juden in Deutschland. Für einige Zeit galt Deutschland gar als das einzige europäische Land, in dem die jüdische Gemeinschaft wieder anwuchs.

Die Zahl der Jüdinnen und Juden in Europa geht kontinuierlich zurück, was sowohl an Migrationsbewegungen liegt, aber auch an einer starken Überalterung der jüdischen Gemeinschaft, womit sich die unmittelbare Nachkriegssituation nach der Shoah bis in unsere Gegenwart fortsetzt. Von etwa 3,2 Millionen in den 1970er Jahren verringerte sich die Zahl der Jüdinnen und Juden in Europa heute auf etwa eine Million.

Und doch ist Europa und somit auch Deutschland gerade auch wegen des EU-Passes für viele Nachfahren ausgebürgerter, ehemaliger deutscher Juden attraktiv. Seit 2015 können Nachkommen von iberischen Juden, die nach 1497 des Landes verwiesen wurden, einen portugiesischen oder spanischen Pass beantragen und so automatisch EU-Bürger werden. Eine Studie hat gezeigt, dass Jüdinnen und Juden sich der Europäischen Union überdurchschnittlich stark verbunden fühlen.

Auch aus dieser pragmatischen Haltung der jüngeren Generation entsteht die ungeahnte Vielfalt jüdischen Lebens in Europa: So gibt es etwa die Europäische Makkabiade, die 2019 der antisemitischen Politik Viktor Orbans zum Trotz in Ungarn ausgetragen wurde, ein Jüdisches Kultur- und Klezmer-Festival in Krakau und akademische Netzwerke wie die European Association of Jewish Studies. Auf dem Israel am nächsten liegenden, südöstlichsten Zipfel Europas, auf Zypern, betreten jährlich Tausende Israelis den griechischen Teil der Insel, weil sie dem Zwang zur religiösen Eheschließung in Israel entgehen wollen.

Jüdische Kultur, Wissenschaft, schlicht jüdische Gegenwart findet also heute ebenso wie in der Vergangenheit im internationalen Austausch statt und ist weiterhin von Mobilität und nun vorwiegend freiwilligen Migrationsbewegungen geprägt. Diese Europäisierung der jüdischen Gemeinschaft lädt dazu ein, nicht nur auf die jüdische Geschichte innerhalb Deutschlands zu schauen, sondern auch den Blick aus Deutschland heraus zu lenken – vielleicht auch gerade, um die deutsch-jüdische Geschichte besser zu verstehen.

Ein Beispiel dafür kann die deutsch-jüdische Diaspora sein: Die Vertreibung der Juden aus Deutschland führte zur Entstehung neuer Zentren jüdischen Lebens, die bis heute Bestand haben. Bedeutende Institutionen zur Erforschung und Bewahrung deutsch-jüdischer Geschichte entstanden in der Folge außerhalb Deutschlands. So etwa die Leo Baeck Institute (LBI) in Jerusalem, London und New York, die seit 1955 als zentrale Forschungseinrichtungen der von Emigranten betriebenen deutsch-jüdischen Geschichte bestehen. In Deutschland werden sie durch die Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft der Leo Baeck Institute (WAG) vertreten.

Gerade durch die transterritoriale Perspektive, die eine deutsch-jüdische Geschichte außerhalb Deutschlands bedingt, können neue Facetten der jüdischen Geschichte aufgezeigt werden. Denn die als Jeckes bezeichneten deutschen Juden in Israel, die aus Deutschland geflohenen Juden in Washington Heights/New York, die deutschen Juden in Südamerika – sie alle nahmen nicht nur einen Teil ihrer „deutschen“ Kultur mit, sondern bewahrten den zunehmend imaginärer werdenden Bezug zur ehemaligen Heimat. Zugespitzt formuliert, lässt sich selbst eine sehr deutsche Geschichte, etwa die einer beispielsweise Alt-Heidelberger jüdischen Studentenverbindung oder eben auch einer Freudentaler Synagoge, nicht schreiben, ohne Archive weit jenseits der Grenzen Baden-Württembergs aufsuchen zu müssen.

Diese Freude an der Grenzüberschreitung, die sowohl für die Erforschung jüdischer Geschichte als auch für das Verständnis der jüdischen Gegenwart unerlässlich ist, macht die Beschäftigung mit jüdischer Kultur gerade jenseits des Nationalstaats so anregend. Sie sollte uns zugleich dazu anregen, Betrachtungen jenseits der großen Linien anzustellen.

Herausforderungen jüdischer Geschichtsschreibung

Die Geschichte der Juden ist immer auch die Geschichte des Ortes, an dem diese gelebt haben. So eingängig diese scheinbar simple Feststellung klingen mag, so wenig selbstverständlich ist sie doch in der deutsch-jüdischen Geschichte und Geschichtsschreibung nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Denn die Jahre der nationalsozialistischen Verfolgung und der dazugehörenden Zerstörung von Synagogen, jüdischen Friedhöfen und der Plünderungen jüdischen Eigentums waren auch an den Zeugnissen jüdischen Lebens nicht spurlos vorübergegangen.

Nur wenige Jüdinnen und Juden waren nach Kriegsende an die Orte ihres früheren Zuhauses zurückgekehrt, die Relikte jüdischen Lebens waren gleichwohl in unterschiedlichem Umfang vorhanden. Doch wer waren nun diejenigen, die sich als „Erben“ diesen Spuren jüdischen Lebens annahmen? Und welche Geschichte konnte erzählt werden sowie, am zentralsten in diesen ersten Nachkriegsjahren, von wem sollte sie erzählt werden, wem sollte sie erzählt werden, wie sollte sie erzählt werden und letztlich auch: wo, an welchem Ort?

Vor wenigen Jahren erschien in der Wochenzeitung DIE ZEIT ein Beitrag über „Emigranten – Die Stimmen von New York“. Darin ging es unter anderem um die überlebenden Juden, vor allem aber um die Frage des Umgangs mit deren „Erbe“, ihrem schriftlichen „Vermächtnis“: den Dokumenten, die diese deutschen Emigranten dem Archiv des Leo-Baeck-Instituts in New York vermacht hatten.

Carol Strauss-Kahn, selbst Tochter von Emigranten aus Dortmund, äußerte dort eine „revolutionäre Idee“, namentlich: „das Herz des Instituts von New York nach Berlin verlagern: sein Archiv“ und begründete dies wie folgt: „Die Emigranten […] sterben aus. Wir denken, dass es sich bei dem, was wir hier sammeln und dokumentieren, großenteils in deutscher Sprache, um einen Teil deutscher Geschichte handelt, es sollte also in Deutschland sein. […] In New York wird diese Geschichte immer weniger relevant, in Deutschland wird sie immer wichtiger. Dort werden diese Sachen nicht verkommen, soweit man etwas über die Zukunft sagen kann.“ (Wolfgang Büscher, Die Stimmen von New York, Die Zeit, 01/2008, https://www.zeit.de/2008/01/Emigranten, Zugriff am 25.01.2022)

Der Punkt gleichwohl, der an diesen Aussagen höchst strittig war und mitten in die Diskussion um die Nachgeschichte des Holocaust trifft, war folgender: Es ging darum, wer das Erbe verwaltet, das die Überlebenden, die Geflüchteten sowie die Hinterbliebenen im Vertrauen um sichere Verwahrung bewusst an das Leo-Baeck-Institut vergeben hatten. Es ging aber auch darum, für welches Publikum dieses Erbe bewahrt werden sollte. Und damit ging es schließlich im Kern darum, um wessen Erbe es sich überhaupt handelte. Und nicht zuletzt ging es darum, wer sich dazu legitimiert sieht, das Erbe der Überlebenden zu verwalten, aufzubewahren und in Geschichtsschreibung zu übersetzen.

Vielleicht ist es ja gerade Freudental und die Bedeutung, die dieser Ort für eine Beschäftigung mit jüdischer Geschichte eingenommen hat, die uns eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet. Ich habe bereits eingangs erwähnt, wofür der Ort in der jüdischen Geschichte steht: Die Geschichte einer jahrhundertlangen jüdischen Präsenz, des Land- und Viehjudentums und der Weinbauern; aber auch die Geschichte der Hachschara, der Auswanderung, auf die später Flucht und Vertreibung und schließlich die Deportation in die Vernichtung folgten. Zuletzt – und das tritt am Beispiel von Baroness Neuberger hervor – aber auch die Geschichte von Remigration – und sei es allein durch die Wiedererlangung der politischen Zugehörigkeit in Gestalt eines Passes.

Die Vielfalt jüdischen Lebens sichtbar zu machen, die Vergangenheit für die Gegenwart zu bewahren und die Zukunft zu gestalten, dass ist zwar im vergangenen Jahr einerseits ein staatliches Anliegen ebenso wie der jüdischen Gemeinden und der jüdischen Öffentlichkeit geworden – ist aber auch ein Verdienst vielfältiger ehrenamtlichen Initiativen. Auch das Pädagogisch-Kulturelle Centrum Ehemalige Synagoge Freudental gehört zu diesen Initiativen, die im besten und überaus erfolgreichen Sinne Ausdruck zivilgesellschaftlichen und öffentlichkeitswirksamen Engagements darstellen. Ausgehend von den materiellen Überresten jüdischen Leben am Ort nehmen sie damit Anteil an einer verantwortungsbewussten Erinnerungskultur und Zukunftsgestaltung, die zugleich eine Verbindung zu den vergangenen und untergegangen Geschichten deutsch-jüdischer Existenz knüpft.

Insofern ist der Blick auch ein Auftrag für die Gestaltung der Zukunft, denn unser aller Engagement ist die Basis für eine offene und vielfältige Gesellschaft, in der jüdisches Leben hierzulande Bestandteil eines ebenso geschichtsbewussten, wie demokratischen und pluralen Gemeinwesens ist. Dass Sie dazu mit der Arbeit des PKC beitragen und diese Gegenwart schon seit 37 Jahren gestalten, dafür ist Ihnen zu danken, wie zu dem heutigen Stiftungsfest zu gratulieren. In diesem Sinne also: ad 120!