Sarajevo – das Jerusalem des Balkans

Zusammenfassung des Vortrags von Professor Stephan Schreiner am 23. März 2025 im PKC
Auf der Folie steht: „Sarajevo – das Jerusalem des Balkans...“. Oben ein englisches Unizitat.

Zusammenfassung des Vortrags von Professor Stephan Schreiner am 23. März 2025 im PKC

Sarajevo liegt an den einstigen Hauptstraßen des Römischen Reiches, die den Norden mit dem Süden und den Westen mit dem Osten verbanden. Diese strategische Lage machte die Stadt zu einem Zentrum kultureller und wirtschaftlicher Begegnungen. Über Jahrhunderte hinweg entwickelte sich Sarajevo zu einem einzigartigen multiethnischen und multireligiösen Schmelztiegel, in dem verschiedene Völker und Glaubensrichtungen friedlich koexistierten.

Bereits 1910 wurde in der Monatsschrift „Ost und West“ festgestellt, dass die Ursprünge der sephardischen Gemeinden in Südosteuropa weitgehend unbekannt seien. Sarajevo, umgeben von Bergen wie in einem großen U, war und ist eine Perle der Kulturen. Trotz der Zerstörungen durch Kriege wurde die Stadt wiederaufgebaut und erstrahlt heute in neuem Glanz. Das Herz Sarajevos ist der Basarplatz mit dem berühmten Brunnen Sebilj. Hier treffen der orientalische und der westliche Teil der Stadt aufeinander, ähnlich wie in Wien. Ein Spaziergang durch die Stadt ermöglicht es, in einer knappen Stunde neun Moscheen, drei Synagogen und zahlreiche Kirchen verschiedener Konfessionen zu entdecken.

Die osmanische Architektur prägt Sarajevo bis heute. Eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert sowie eine der ältesten Madrasas (das bedeutet „Islam-Schule“ oder allgemein „Schule“), die heute ein Museum ist, zeugen von der islamischen Gelehrsamkeit. Die islamisch-theologische Fakultät der Universität Sarajevo erinnert in ihrer Architektur an einen orientalischen Palast. Doch auch die christlichen Traditionen sind präsent: Die orthodoxe Kirche der Erzengel Michael und Gabriel stammt aus dem 15. Jahrhundert, gegenüber stehen zwei sephardische Synagogen, zudem gibt es eine serbisch-orthodoxe Kirche und die katholische Herz-Jesu-Kathedrale. Die Akademie der Schönen Künste, einst eine evangelische Kirche, sowie das ehemalige Rathaus im orientalischen Stil runden das vielfältige architektonische Bild ab. Ein besonderes Symbol der multireligiösen Geschichte ist das Franziskanerkloster mit angeschlossener Brauerei. Sarajevo ist bis heute eine Stadt, in der verschiedene Religionen und Kulturen nebeneinander existieren.

Die jüdische Gemeinde hat eine lange Geschichte in Sarajevo. Seit der Expansion des Osmanischen Reiches (1040–1683) bot die Stadt Zuflucht für verfolgte Europäer, insbesondere Christen und Juden. 1463 regelte eine Urkunde – heute Weltkulturerbe – das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Das Osmanische Reich, das von 1299 bis 1920 von 36 Sultanen regiert wurde, war ein Zufluchtsort für viele jüdische Gemeinden. Die vertriebenen Juden brachten ihre Sprache mit, das Ladino, welches bis ins 20. Jahrhundert hinein in Sarajevo gesprochen wurde. Mehmet II., der Eroberer Konstantinopels, lud die Juden explizit ins Osmanische Reich ein, ebenso wie seine Nachfolger, darunter Sultan Süleiman der Prächtige. 1623 erhielt Sarajevo mit Samuel Baruh seinen ersten Oberrabbiner.

Die jüdische Gemeinschaft erlebte allerdings auch interne Herausforderungen, insbesondere durch die messianische Bewegung des Schabbatai Zwi. Dessen Anhänger, die eine trinitarische Vorstellung von Gott vertraten, gerieten in Konflikt mit dem traditionellen Oberrabbinat. Dennoch blieb die jüdische Gemeinde ein integraler Bestandteil Sarajevos. Die osmanischen Synagogen (!) der Stadt sind nach Mekka ausgerichtet, was die Verbindung von jüdischer und islamischer Kultur unterstreicht.

Das jüdische Erbe Sarajevos erlebte Phasen des Niedergangs und der Blüte. Der sephardische Rabbiner Moritz Levi schrieb 1911 eine bis heute bedeutende Geschichte der Sephardim in Bosnien. Isak Samokovlija trug durch Übersetzungen aus dem Ladino ins Bosnische zum kulturellen Austausch bei. Dr. Kalmi Baruh war 1923 der erste Sprachwissenschaftler, der sich in seiner Dissertation mit der romanischen Erforschung des Ladino befasste. Eine der ersten jüdischen Dramatikerinnen, Laura Papo Bohoreta, brachte 1930 ihr Stück „Esther“ (Esterka) auf die Bühne.

Ein besonderes Symbol jüdischer Kultur in Sarajevo ist die berühmte Haggada. Im Jahr 1830 retteten Muslime den Rabbiner Mose Danon und neun weitere Juden aus der Gefangenschaft des osmanischen Herrschers Ruzdi Pascha – für die jüdische Gemeinde Sarajevos ein Ereignis von ähnlicher Bedeutung wie das Purimfest. Später entstand die „Megilla Sarajevo“, eine auf Ladino verfasste Erzählung über die Wunderheilung des kranken Rabbiners Mose Rafaelovic durch die Erscheinung eben dieses aus der Gefangenschaft geretteten Rav Mose Danon.

Bis heute bewahrt Sarajevo seine besondere Convivencia – ein friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen. Diese spirituelle Verbindung verleiht der Stadt eine außergewöhnliche historische und kulturelle Bedeutung, die weit über die Grenzen Bosniens hinausreicht.

Michael Volz